Günther Vogt

Friedrich Wilhelm Meyer

Der Aquarellist
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Die Aquarelle sind, alles in allem genommen, die freundlichen Kinder von Friedrich Wilhelm Meyers so ernst gewordenen Muse. Überblickt man die uns erhalten gebliebenen hundert Blätter, allesamt zwischen 1942 und 1958 entstanden, und hält sie zum Vergleich neben die Ölbilder dieser Zeitspanne, so wird das ganz augenscheinlich.

Geradezu mit Andacht sieht man bestätigt, daß das Medium, das schnelle und spontane Malen mit Wasserfarbe, sein Eigenleben führen kann und als Produkt des Augenblicks zu einer intimen Bekanntschaft mit seinem Urheber führt. Es will leicht fertig sein und muß sich gegen Nachbessern oder Übermalen wehren, wenn es nicht sein Gesicht verlieren will. Des Aquarells Abneigung gegen Korrektur zwingt, vor dem Vollzug zu grübeln und nicht währenddessen. Der Maler muß sich während der Aktion schlüssig sein, sonst ist es zu spät. Das heißt, ein Thema oder eine Stimmung soll ihn beschwingen, damit er leicht fertig wird.

Für den Aquarellisten Friedrich Wilhelm Meyer scheint es eine bestimmende Kraft gegeben zu haben: die Sehnsucht. Der Wunsch nach Befreiung, nach Geborgenheit im Altvertrauten, und der letztlich unerfüllte Drang, die Schatten loszuwerden, die das Grauen des Tages und einer bösen Vergangenheit auf sein Gemüt geworfen hatte.

Es ist bemerkenswert: Während der Kriegsjahre, als unter anderem die Ölbilder von den Greueln des Nationalsozialismus entstanden, ist das Thema als Aquarell überhaupt nicht zu finden, obwohl es so doch schneller und gefahrloser hätte realisiert werden können; und in der Endzeit seines Schaffens, als sich immer mehr auf Themen, Formen und Farben die schweren Schatten senkten, hat Meyer keine Aquarelle mehr gemalt: Sie sperrten sich grundsätzlich vor dem Grauen und Zähneblecken des Unmenschen, sie führten allemal ihr Eigenleben.

Wir zählen im erhalten gebliebenen Aquarell-CEuvre Meyers 39 Landschaften, 43 Figürliches, 5 Stilleben, 12 Abstrahierungen. Quantitativ vollzieht sich die Produktion kontinuierlich bis zu einem Höhepunkt im Jahr 1949, pausiert bis in die Mitte der fünfziger Jahre und bricht dann jäh ab. 1942:1; 1943:5; 1944: 6; 1946:4; 1947:12; 1948:10; 1949:45; 1956:3; 1958:5.

In den Kriegsjahren herrscht die Landschaft vor, unmittelbare Reaktion auf das 1942 gefundene Domizil im Schwarzwald. Auch Figurengruppen tauchten auf, im Gegensatz zu den Landschaften mit einer unumgänglichen Bleistiftvorzeichnung versehen. Aber welch ein Kontrast zwischen den lustigen Burschen im "Zirkus" (1943) und dem unmittelbar vorher in Öl gemalten "Europa-Zirkus", der apokalyptischen Ahnung der Hitlerzeit! Willkommene Synthese von graphischem Gerüst und fließender Farbe im "Geigenspieler", Freiheit von allem im "Schwarzwald" (1944). Baum und Strauch, Haus und Tal, Mensch und Mensch geben sich unbefangen als künstlerische Wesen, unbeeindruckt von den Stürmen des Tages und auch der Künste.

Die ersten Jahre nach dem Krieg: es muß nicht jetzt ein Akt der Befreiung auf den Aquarellen erscheinen, weil sie schon vorher nicht gefesselt waren; innere Freiheit war schon vorhanden in Zeiten äußerer Unfreiheit. Landschaften werden hingeworfen, bisweilen jetzt wuchtiger in der Erscheinung. Farbliche Verfremdung, wenn sie einfließt, vermählt sich dennoch mit Wahrscheinlichkeit (Jachenau und Gunzesried, 1947). Lust an Einfällen außer der Reihe ("Markt im Orient", 1947) führt unmerklich zu einer Folge von Nachdenklichkeiten mit der "Sklavin" in reduzierter Farbskala bis hart zum Schwarzweiß. Immer noch vorherrschend der Drang nach Geborgenheit in der Natur.

Erweicht erstmals 1948, da die "Gebirgslandschaft" auf radikale Form gebracht ist, die Stücke der Natur solitär ablesbar werden. Das setzt sich fort in dem "Tanz auf den Trümmern", in dem nicht nur die Figur, sondern auch abstrahierte Gegenstände in Bewegung geraten. Das ist, umringt noch vom Vertrauten, der Vorklang zum großen und reichen Jahr 1949, für das Aquarell wie für die Ölmalerei.

1949. Hans A. Halbey hat auf den Punkt hingewiesen und auf seine Schlüsselposition: flächige Bildbewältigung im Sinne des analytischen Kubismus; abstrahierende Komposition, die das Augenblickliche zur zeitlos gültigen Möglichkeit macht. Beim Aquarell dürfen wir den für Meyers Malerei auslösenden Faktor Grauen nahezu außer acht lassen. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß die Farben und die Formung nun eine bisher nicht wirkende Kraft ausstrahlen. Nicht nur die Figuren, auch die Gegenstände und die Natur scheinen sich mit Ellbogen robust Platz schaffen zu wollen. Es häuft sich zunehmend eine starke schwarze Konturals Gerüst, das die Farbe in sich hinein zwingt.

Das Aquarell rückt in diesem Jahr der Ölmalerei so nahe wie vorher nicht und wie nachher nicht. Beinahe könnte es seine Unschuld verlieren, wenn die spirituellen Anklänge des Vorjahres in die gewalttätige Formung und die dickflüssige Farbsetzung mancher jetzt entstehender Blätter übergeht. Doch nur manchmal: es obsiegt die Eigenschaft der Wasserfarbe, sich lieber leicht zu geben und in diesem Sinne Selbstbestimmung zu üben, als grelle, schmetternde Töne von schneidender Gewalt zu produzieren. Das Panorama der Themen ist jetzt weit. Es scheint, als sei eine neue Zeit angebrochen. Wie im Rausch schafft Meyer Blatt auf Blatt. Landschaften, Stilleben, Figurengruppen mit und ohne szenischer Bedeutung, Stadtansichten, Gegenstandsloses.

Ob es ein Zufall ist, daß ausgerechnet das letztere die größte Farbigkeit, Beschwingtheit und Befreiung bringt, obwohl es Titel wie "Chaos" trägt? Daß hingegen ein Blatt "Krieg" nicht weit entfernt ist vom Blatt "Frühling in den Gärten"? Daß es Erscheinungen wie den Musikanten, den Kesselflickern, den Badenden, Anbetenden oder der Frau am Fenster offenbar noch nicht ganz wohl zumute ist? Gelöstheit tritt allein ein, wenn Meyer sich in einer noch nicht erschaffenen Welt verlieren kann, in der man sich am Weichen, Runden, heiter Farbigen erfreuen darf.

Eine Übereinstimmung von Ereignissen stimmt nachdenklich und läßt sich so leicht nicht auf einen Nenner bringen. Künstlerisch war Meyer nun an einem Punkt angelangt, da ersieh mit Picasso auseinandersetzen mußte und notgedrungen die Welt mit Augen wie denen des Spaniers zu sehen begann. Es war aber auch das Jahr, in dem sich Meyers Heimatland mit der Gründung der Bundesrepublik eine neue Ordnung gab. Viel Arbeit stand bevor, vom Wohlstand konnte man noch wenig ahnen und ob sich eine neue Gesellschaft formieren würde? Beides fiel also in die gleiche Zeit: Meyers persönliche Kunstwendung und die Wendung seiner Umwelt.

Man mag es als glückliche Fügung betrachten, daß Friedrich Wilhelm Meyer als ein stets wacher und kämpferischer Beobachter der Zeitläufte durch sein neues Instrumentarium in die Lage versetzt war, künstlerisch Distanz zu halten zu einer aufblühenden Umgebung. Man kann aber auch seiner Gabe der Vorahnung gutschreiben, daß er sogleich einer Gesellschaft das "Memento mori" vorhielt, ohne erst von einem aktuellen Formenkanon dazu legitimiert zu werden. Jedenfalls ist für ihn das Jahr 1949 ein großes, breites, reiches Jahr des Aquarells gewesen.

Der Antritt setzte sich dann auf der anderen Ebene fort, und zwar so ernst- und schmerzhaft, daß für die spontane Freude und die momentanen Einfälle des Aquarells offenbar keine Zeit der Entspannung blieb. Sechs Jahre lang hat Meyer offenbar den Pinsel für Wasserfarben nicht in die Hand genommen. Dann tauchen 1956 noch einmal drei Landschaften von schönster Unbefangenheit auf. Hält man sie neben die in den Jahren zuvor in Öl gemalten Menschen, so lassen sie sich als eine Flucht in die Natur deuten, als ein momentaner Ausbruch aus einer schier unheilbaren Gesellschaft, die ihn aber dann doch wieder zurückholt.

Im gleichen Zusammenhang ist eine Folge von gegenstandslosen Blättern (K I bis K IV) von 1958 zu sehen. Kreise, Schleifen und Bögen, raumgreifend und mit Rechtecken ineinander verschränkt, führen ein unbefangenes Spiel vor; in der Malerei der folgenden Zeit findet sich kein Widerhall dazu. In Korrespondenz zur K-Folge dürfen wir das gleichzeitige Aquarell "Chaos Ende" sehen: ein Vogel fliegt auf die ausgestreckte Hand einer Vaterfigur im Gewand aus warmem Rot. Das ist ein freundlicher Wunsch geblieben.

Noch einmal hat das Versöhnliche in Meyers Aquarellkunst seinen Ausdruck gefunden. Dann schweigt diese Stimme ganz. Was der Maler Meyer noch zehn Jahre folgen läßt, bleibt die permanente Auseinandersetzung mit dem Unversöhnlichen.

Günther Vogt