Dieter Hoffmann

Friedrich Wilhelm Meyer
Leben und Werk
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Friedrich Wilhelm Meyer, der Mann mit den fürstlich klingenden Vornamen und dem kommunen Nachnamen - was einen spannenden Widerspruch gibt - ist am 8. Juli 1900 geboren, am 28. September 1968 gestorben. Die Familie stammte aus Sybba in Ostpreußen, aber er kam schon als Kind von zwei Jahren nach Frankfurt. Er wurde ein Frankfurter Maler, ein Schüler Max Beckmanns. In Frankfurt am Main formte sich seine Kunst und sein Schicksal.

Das Geburtsjahr 1900 war eine genau datierte Zeitenwende, ein Jahrhundert verabschiedete sich, ein neues grüßte. Ängste versanken, Hoffnungen versanken, Ängste und Hoffnungen standen am neuen Horizont. Friedrich Wilhelm Meyer, den es zu erkennen, für unser Kunstverständnis zu gewinnen gilt, ist ein tragischer "Fall" für die Kunstgeschichtsschreibung. Das ist er, weil er sein Werk, vielleicht sein Lebenswerk, im Kriege verloren hat. Aus der frühen Zeit gibt es nur noch Reste, übriggeblieben aus Brandnächten der Bombenangriffe und aus Haussuchungen der Geheimen Staatspolizei. Das ist er, der tragische "Fall", weil er während der Jahre der Lebens- und Kunstdiktatur, 1933 bis 1945, an der Entfaltung gehindert wurde. Das ist er, weil er vordem einen überwältigenden Lehrer hatte. Und das ist er, weil er nicht mehr lebt, nicht mehr arbeiten, sich mit der Welt auseinandersetzen, wirken kann. Nun ist zu untersuchen, was von ihm blieb.

In Frankfurt-Sachsenhausen besuchte der Sohn eines Reichsbahn-Ingenieurs die Oberrealschule, machte sein Abitur und wurde noch kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs zum Militär eingezogen. Die ganze Klasse wurde - gewiß recht unfestlich - in der damals hochmodernen Frankfurter Festhalle ausgebildet. Friedrich Wilhelm Meyer wurde Meldereiter, so brauchte er selbst nicht zu töten. 1919 kehrte er aus Rußland heim, als Tramp sozusagen, Angehöriger eines Volkes, das den Krieg verloren hatte. Die Eltern hätten den Sohn nun gern als Ingenieur gesehen, es wurde auch ein Versuch gemacht; Physik und Mathematik, überhaupt die Naturwissenschaften hatten den jungen Meyer schon als Schüler interessiert, aber wohl die aufgewühlte Zeit von Zusammenbruch, Revolution, Inflation ließen den Wunsch reifen, Künstler zu werden. Friedrich Wilhelm Meyer bewarb sich um Aufnahme in der Städel-schule, wurde schließlich 1923 Meisterschüler bei Cissarz, einem sensiblen, dem Jugendstil verbundenen Künstler; 1928, ein Jahr vor dem Abgang aus der Städelschule, ging er kurze Zeit in die Klasse Max Beckmanns, auf Empfehlung seines Förderers, des Professors Fritz Wiehert, der Direktor der Mannheimer Kunsthalle war, bevor er Direktor der Städelschule wurde.

Schon als Städelschüler wurde Meyer zu Ausstellungsarbeiten der Stadt herangezogen, so zur Hygiene-Ausstellung, zur Bau-Materialien-Ausstellung, zur Musik-Ausstellung. Durch Beckmann wurde Meyer mit der Frankfurter Beckmann-Sammlerin Lilly von Schnitzler bekannt, die zwei Bilder Meyers erwarb und die Patenschaft über Meyers Töchterchen Lucie übernahm. Von einstigen Schülern Max Beckmanns leben noch Inge und Walter Hergenhahn und Georg Heck in Frankfurt, Theo Garve in Hamburg, Leo Maillet in Verscio im Tessin. Friedrich Wilhelm Meyer erkannte die prägende Geistgewalt des großen Beckmann und entzog sich ihm faktisch: er wollte, wie er sagte, nicht "ein kleiner Beckmann" werden, sondern, wie auch immer, ein Meyer. Daß Meyer auch außerhalb der Schule vom Atem des anderen nicht unberührt blieb, machen frühe Bilder bewußt. Unser Künstler ging so weit, das Formenvokabular nicht nur zu entleihen, sondern mit den Augen des gefürchtet-verehrten Freund-Lehrers zu empfinden: Meyer malte seine eigene Frau Aenne mit den Zügen von Beckmanns Frau Quappi, sich selbst mit den Zügen Beckmanns, ein psychologisches Phänomen, eine verständliche Identifikation. Gelöst vom Dämon Max Beckmann war Meyer in den Jahren, da Beckmann im Exil in Amsterdam lebte, vollkommen aber erst nach Beckmanns Tod.

Es läßt sich heute schwer sagen, welche Zeit im Schaffen Friedrich Wilhelm Meyers die beste ist; dazu müßte man das Frühwerk besser kennen, als daß die wenigen erhaltenen Bilder solche Kenntnis möglich machten. Vielleicht gehört die Zeit, da er im Schwarzwald untergetaucht war, zu seiner künstlerisch stärksten. 1933 hatte für ihn, wie für ungezählte andere auch, der Leidensweg begonnen: Beckmann emigrierte nach Holland, Wiehert nach England, die Gemeinschaft zerfiel. Meyer galt als "entartet", Bilder wurden beschlagnahmt, er selbst wurde mißhandelt, zur Schwerarbeit gezwungen, viermal verhaftet; beide Kinder, 1937 und 1938 geboren, starben 1939 an einer Kinderkrankheit, die näheren Umstände ließen sich danach nicht mehr ermitteln. Drei Jahre vor Kriegsende nun konnten Friedrich Wilhelm und Aenne Meyer sich in den Schwarzwald zurückziehen. Zu jener Zeit malte er die stillen, scheinbar anspruchslosen, doch durch und durch malerischen Landschaften. Nur Landschaft, reine Landschaft, Ruhe auf der Flucht. Im selben Jahr 1942 malte er aber auch seine Großformate "Hitlers Europa-Zirkus" und "Hitlers SS", mutiger Beitrag zur Inneren Emigration, wie ihn ein paar Jahre vorher Otto Dix mit dem Bilde der "Sieben Todsünden" geleistet hatte. - Wie mag der Antifaschist, obgleich er nichts zu lachen hatte, gelacht haben, als der Reichsluftmarschall Hermann Göring posaunte, wenn auch nur noch ein feindliches Flugzeug in Deutschland einfliegen könnte, wolle er - Meyer heißen! Friedrich Wilhelm Meyer hatte hinfort diesen höchst unwillkommenen Namensbruder.

ß 25 Jahre, nachdem der Künstler, "Hitlers Europa-Zirkus" gemalt hatte - den Diktator als chaplinesken Schani, die Jungfrau Europa entmythologisiert als Stripperin - malte Friedrich Wilhelm Meyer ein Bild gegen den Atomtod. Enttäuscht über die Restauration nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, enttäuscht über das zählebige Gewimmel kleinlicher Interessen, änderte Meyer seinen Stil. Seine Götter wurden Picasso und Braque, Picasso vor allen. Picasso zerbrach aktiv die Form; Meyer ist passiv die Form zerbrochen. Die zerbrochene Form freilich ist Meyers Schatz. Sie ist, als das Äquivalent eines zerbrochenen Lebens, ein unerschöpfliches Thema.

Als der Krieg vorbei war, war der Spuk noch immer nicht vorbei; Trümmer, Flüchtlings-Elend, Schwarzmarkt, Schiebung, schlechter Wiederaufbau, Währungsreform, Freßwelle . .. Themen über Themen. Friedrich Wilhelm Meyer verschlüsselte sie in der Maske. Was Gottfried Benn 1922, nach dem Ersten Weltkrieg, in einem Epilog schrieb: "Lemuren, Schemen, kreischende Mahre", das hat es immer gegeben und das wird es immer geben. Die Exhibitionismen und Versteckspiele, Unterstellungen und übertreibungen, Selbsterhöhungen und Selbstquälereien eines permanenten Maskentreibens gehen durch die Kunst aller Zeiten. Die Kriegsknechte auf den gotischen Kreuzigungsbildern, die um den Rock des Herrn würfeln, sind "häßlich aus Haß". Der in unserer Zeit die lieblichsten Mädchen malte, Carl Hofer, hat auch die grausigsten Männermasken gemalt. Meyer karikiert und plakatiert. Kunst als Karikatur und Karikatur als Kunst ist ein Kunstproblem mindestens seit dem Manierismus: die in der Renaissance erworbene oder gewollte Beherrschung der Perspektive - ein Zeichen für Zielstrebigkeit, Fortschrittsglauben und Weltsicherheit - wurde im überdruß am Auge, das zu viel, zu genau sah, verzerrt.

Friedrich Wilhelm Meyer gehört mit dem Werk seiner letzten anderthalb Jahrzehnte in die apokalyptische zweite Jahrhunderthälfte. Er ist in seinem Leben vielen Menschen, vielen Masken begegnet. Er malte Einzelne, Paare, Gruppen, Einsame, Gepaarte, Interessengruppen. Ergab seinen letzten Bildern Titel wie "Gewichtige Leute mit Januskopf", "Die Gesellschaft", "Tanzende Masken", er nannte die Tafeln seines säkularisierten Triptychons "Die Genießer", "Die Giganten", "Die Mitspieler". Bilder wie "Kongo" und "Kalter Krieger" sind tagesnahe Auseinandersetzungen mit seiner Zeit und ihrer Politik. Wenn er sich selbst sah, dann als "Demokrit", "Ikarus" und "Don Quijote". Der griechische Philosoph Demokritos (um 460 v. Chr. - um 371), ist der "lachende Philosoph", der Geist und Sinne versöhnt, der über Physik und Technik ebenso wissend lehrte wie über Musik, Poesie und Malerei, die Atomlehre begründet hat, welche bis in die Gegenwart fortwirkt. Der mythische Ikarus, Sohn des mythischen Dädalus, war wie sein erfindungsreicher Vater im Labyrinth des kretischen Königs Minos gefangengehalten, von wo sie keinen anderen Ausweg finden konnten, als mit künstlichen Flügeln in die Höhe - Ikarus kam der Sonne zu nah, das Wachs, das die Flügel zusammenhielt, schmolz, und Ikarus stürzte ins Meer. Der spanische Romanheld Don Quijote in dem Epos "El inge-nioso hidalgo don Quijote de la Mancha" des Miguel de Cervantes Saa-vedra (1547-1616) ist der "Ritter von der traurigen Gestalt", will kraft der Phantasie die verlorene Vergangenheit wieder lebendig machen, indem er die Wirklichkeit der Gegenwart ignoriert. - Ikarus, dessen Flügel an der Sonne verbrannten, Don Quijote, dessen Lanze an Windmühlen zerbrach, sind Topoi für den Menschen schlechthin, für den künstlerischen Menschen im besonderen. Die Figur des Don Quijote lebt von Daumier bis Dali in der Malerei, die Figur des Ikarus von der Antike bis Beckmann. Meyer vergab sich nichts, wenn er sich mit Welt-Leitbildern des Scheiterns identifizierte, im Gegenteil, er stellte sich in eine Reihe großer Namen - Bescheidenheit war zugleich Anspruch. Ein "lachender Philosoph" und ein "Ritter von der traurigen Gestalt", wie vertrug sich das? Der Künstler verkehrte die Gegebenheiten: sein "Don Quijote" ist verhältnismäßig heiter, eine Eigenschaft, die auch Cervantes an die Oberfläche projiziert; seine "Maske des Demokrit" aber ist von einer Bitterkeit, wie sie in Meyers Werk einmalig sein dürfte, die Augen sind weit aufgerissen: sollten Sinne und Geist sich zum Bösen verbündet, zu Unsinn und Ungeist verkehrt haben?

Friedrich Wilhelm Meyer, der entschiedene Gegner einer Atomrüstung, hat wohl den paradoxen Mißbrauch der Lehre Demokrits empfunden. Aber er engagierte sich nicht mehr politisch aktiv, nur noch ausschließlich künstlerisch. In den Jahren 1929 bis 1933, als er die Städelschule verlassen hatte, fuhr er von Versammlung zu Versammlung. Er schien zeitweilig sogar die Malerei zugunsten der Politik zu vernachlässigen. Nach 1945 entwickelte er weder Rachegefühle noch verspürte er Lust, politisch da wieder anzuknüpfen, wo er 1933 hatte aufhören müssen, er wollte jetzt nur noch malen, freiwillige und erzwungene Versäumnisse ausgleichen. Zwei Herzinfarkte waren die späte Folge seiner Leiden unter der Diktatur. Der Klinik-Aufenthalt in den Jahren 1961 und 1962 brachte Friedrich Wilhelm Meyer zwar keine dauernde Heilung, aber viele Freundschaften mit Ärzten; die Unterhaltungen waren ihm stets ein Ansporn zum Malen.

Ostern 1968 unternahm das Ehepaar Friedrich Wilhelm und Aenne Meyer eine Paris-Reise, die sie sich nie vorher gegönnt hatten. Er war dem Schicksal dankbar, genoß die Museen und kehrte voller Energie und Arbeitsfreude nach Frankfurt zurück. Im September des gleichen Jahres ist er gestorben. Seine Witwe versichert wiederholt, daß er seinen Tod geahnt habe. Die hastige Produktion in einem tagebuchartigen Schaffensprozeß bestätigt die Todesahnung; die drängende Fülle seiner Visionen, die auf Nach- oder Vorerlebnissen beruhen mochten, der Wille, möglichst viel von dem, was ihn beunruhigte, auszudrücken, so etwas wie ein Weltbild zu hinterlassen, hat ihn alle Rücksicht auf Pein-ture, die ihm in seiner Schwarzwaldzeit so selbstverständlich war, außer acht zu lassen ermutigt. So tauschte er das eine gegen das andere. Hatten die früheren Bilder mehr malerische Qualitäten als inhaltliche, so wuchsen nun den späten Bildern mehr inhaltliche Qualitäten zu als malerische. Ein hartes Schicksal hat es ihm schwer gemacht, beides zu vereinen. Von hier aus gesehen ist Kunst und Leben Friedrich Wilhelm Meyers ein exemplarisches Schicksal, ein exemplarisches deutsches Schicksal des zwanzigsten Jahrhunderts.

Was sich von seinem Werk erhalten hat, ist hier nun gesammelt, jedes erreichbare Gemälde ist in der Art eines Oeuvre-Verzeichnisses katalogisiert; einige sind in größeren Schwarz-Weiß-Tafeln wiedergegeben, andere als Farbtafeln. Im Gegensatz zu Gemälden, die der Beschlagnahme und dem Bombenkrieg zum Opfer fielen, haben sich einige frühe Zeichnungen aufgefunden, teils angesengt in einer Kiste; es sind Arbeiten des Akademieschülers, akademisch frisch verraten sie die Begabung; freilich erweisen sie, daß Meyer vorwiegend Maler war, nicht eigentlich Zeichner um der Zeichnung willen, sie hat dienende Funktion, ist Studie, Skizze, allenfalls Vorübung für künftige Gemälde. Daß wir auch der Werkzeichnung den Reiz, auf den es ihr ankommt, abgewinnen können, ist indessen gar keine Frage. Die Aktstudien der Akademie-Zeit haben einen gesunden Schuß Realismus, ganz wie es solchen Arbeiten geziemt; ein paar feine Landschaftsstudien zollen der Neuen Sachlich-lichkeit Tribut: ein Selbstbildnis strebt Identifikation mit Vincent van Gogh an.

- Ein Vierteljahrhundert später, wir schreiben statt der zwanziger die fünfziger Jahre, setzt nun doch einmal ein breiterer Strom zeichnerischen Schaffens ein, nur gilt hier Meyers Versenkung nicht Beckmann, nicht Picasso, auch nicht van Gogh, sondern dem frühen Klee, dem Klee, der eine Brücke gefunden hatte vom Symbolismus zur Abstraktion. Die Serie der Tuschfederzeichnungen bildete für Friedrich Wilhelm Meyer einen Schatz an Introversion. Die Blätter sind kleiner als ein Briefbogen, die Linien sind drahtartig, die Flächen haarig gestrichelt, das Spiel von "Gefüllt" und "Leer" ist überschaubar. Im Hinblick auf Zeichner der Gegenwart, wie Gerhard Altenbourg, erregen Meyers surreale Szenen aufs neue unsere Aufmerksamkeit.

Dieter Hoffmann